Frisch aus der Schweiz. Im Journal ‚Becoming‘ von Michelle Obama stellt sie die Frage: Was war das spontanste, was du im Leben gemacht hast? Ich habe, weil ich einem Freund beim Bewerbungen schreiben geholfen habe, auch einfach eine Bewerbung abgeschickt. Die schönsten Monate waren es nicht für mich. Jetzt erst begreife ich, dass es nur eine kurze Zeit war und man daraus lernt. Vielleicht dazu später mehr.
Gesparte Kohle aus der Schweiz für den Führerschein in Hamburg ausgegeben. Ich weiß nicht, wann der Lappen so teuer geworden ist. Da legt man ordentlich hin. Ich hatte in Berlin schon einmal einen Versuch gestartet. Bin gescheitert. Definieren wir das vorher? Nö. Nicht an der Praxis. Theorie. Gar nicht mein Ding. Hab es aufgegeben. Ich weiß gar nicht mehr so richtig, warum und wieso. Komische und keine einfache Zeit. 2003 oder so.
Dann saß ich, 26, mit 18jährigen in einem Raum und wartete auf die Prüfungsergebnisse der Theorieprüfung. Ich hatte heimlich in der Schweiz gelernt. Keiner wusste von meinem Vorhaben. Zu viel Publikum kann stressen. Diese Art Dinge in meinem Leben zu entscheiden und durchzuziehen wiederholt sich dann auch. Ich finde es eine zu empfehlende Taktik. Macht euer Ding. Und dann erzählt davon. Heißt nicht, dass man sich keine Hilfe suchen oder nach Rat fragen soll. Mir hier nicht die Worte Im Mund umdrehen.
Bestanden. Wurde aber auch Zeit. Kohle weg. Schulden bezahlt. WG-Zimmer am Hauptbahnhof mit Mäusen. Läuft bei mir. Ok, was jetzt. Was will ich eigentlich? Ich weiß es nicht. Ich probiere mal ein Studium aus. Fachabi wird reichen. Und ich erhoffe mir mehr Gehalt, wenn ich so einen Schein in der Hand halte. Aber nur unter folgenden Bedingungen: kostet nichts, irgendwas mit Kultur und kein Mathe. Einladung zum Test und Vorstellungsgespräch in der Fachhochschule Görlitz bekommen. Ich weiß gar nicht, fällt mir jetzt ein, ob ich diesen Test ‚bestanden‘ habe! Ich wurde dann aufgerufen. Wieder ein Raum und 10 Jahre jüngere Menschen. Was mach ich hier eigentlich? Ich hab den Head of Kultur- und Kunstgeschichte für mein Gespräch erwischt. Wir werden noch öfter aneinander geraten. Anstrengend und ganz viel Ego. Gott sei Dank hatte ich, in diesem Fall hilfreich, eine Kindheit, wo mich Provokationen von alten weißen Männern nicht einschüchtern. Langweilig. Er sähe mich hier nicht. Was würde ich denn stattdessen machen. Was ist denn mein Plan B? Provokation pur. Ich verstehe die Frage nicht. Ich habe kein Plan von mein Leben. Ok, ich bin nicht angenommen. Verstehe. Er zündet sich eine Zigarette an. Er hat vorher gefragt. Er lehnt sich gönnerhaft zurück. Wen schüchtern das denn bitte ein. Komm schon. Kann ich gehen?
Ich bin vor dem Test auf dem Campus herumspaziert. Genau an der Grenze zu Polen. Alles neu gebaut und saniert. Ein Glaskasten zwischen den Gebäuden. Fast das Louvre. Die Kantine. Darüber die Bibliothek. Käffchen. Salatbar. Wow. Toll gemacht. Hier kann man es aushalten.
Ja, vielleicht nach Zürich und Logopädie interessiert mich auch, antworte ich ihm. Denkt er ich fange an zu weinen, weil ich eine Absage bekomme. Da muss mehr passieren. Ob ich noch etwas zu sagen hätte oder Fragen habe, erwiderte er mir immer noch zurückgelehnt. Ja, habe ich. Ich lobte den Campus und dass man sich glücklich schätzen könnte an so einem Ort zu studieren. Die Kantine ein toller zentraler Ort ist mit einem schönen Blick und einer angenehmen Atmosphäre ist. Herzlichen Glückwunsch Görlitz. Gut gemacht.
Damit hat er nicht gerechnet. Das sah man ihm an. Aha. Interesse. Trotz Absage und Provokation ein Lob. Ungewohnt, was? Er hatte die Sanierung und Finanzierung mit durchgeboxt, erzählte er mir stolz. Also hatte ich sein Ego erreicht. Da haben wir es wieder. Laaaaangweilig.
Zurück in Hamburg. Die Mäuse immernoch da. Jetzt wartet ich nur noch auf die Unterlagen, damit ich mich für das Studium einschreiben kann. Wohnung suchen. BAföG beantragen. Mit 26.
Der Brief kam. 70 EUR musste ich als Pauschale für die Immatrikulation überweisen, sonst bin ich nicht drin. Ok. Hab ich nicht. Letztes Geld für Bahn und Unterkunft in Görlitz ausgegeben. Knietief im Dipso, aber einen Führerschein. Pfandflaschen sammeln war 2007 noch kein Nebenjob. Und als Sexarbeiterin arbeiten war damals noch keine Option. Obwohl mein Kiez DER Arbeitsplatz dafür war.
Meine Mitbewohnerin machte ein Praktikum für ihr Sozialirgendwasstudium in Hamburg. Älter als ich. Vom Dorf und so eine, die Kohle gespart hatte. Wie du hast keine 10.000 EUR als Reserve auf dem Konto? Und wieder – ich verstehe die Frage nicht. Ich habe früher nie nach Hilfe gefragt. Nie. Aber damals hatte ich keine andere Option. Ich musste mir die 70 EUR leihen. Eine krasse Überwindung. Heute für mich unvorstellbar. 70 EUR.
Heute sitze ich in einer Bar und die 18 EUR für ein Moscow Mule tun mir nicht weh. Invest. Ohne den Schein hätte ich den Job nicht und das Gehalt. Die Inflation muss man mitdenken, ich weiß.
Und ich vergesse das auch nicht. Mit wenig Geld ausgekommen zu sein. Schulden machen, um weiterzukommen. Nie aufgeben. Ausprobieren. Nach Hilfe fragen. Ob nun 1.000 EUR, ein Rat, 50 EUR …fragt. Es ist alles nur eine Zeit, wo man gerade nicht kann und Starthilfe braucht. Nichts verwerfliches. Und so unwichtig.